So lange die Darstellung der äußeren, sichtbaren Welt für die abendländische Malerei eine selbstverständliche Aufgabe war, bestimmte nicht zuletzt auch der jeweilige Grad der Wirklich­keitsaneignung die qualitative Einschätzung des Bildes. Als Ab-Bild der vielgestaltigen Erscheinungsformen der Welt sollte es möglichst „naturgetreu", ja „täuschend echt" wirken. Galt doch das Wirkliche lange Zeit als Spiegelbild des Wahren und damit des Göttlichen. 
Das Begriffspaar Wirklichkeit und Wahrheit hat seitdem vieles von seiner alten Unschuld und Eindeutigkeit verloren, nicht jedoch seine Aktualität für Kunst und Leben. 
Es scheint, als sei die Fotografie an der permanenten Hinterfra­gung und Revision dieser Begriffe in besonderem Maße beteiligt. 
Zunächst galt das Auge der Kamera als unbestechlich und das mittels Objektiv und Film Festgehaltene als extrem wirklichkeits­nah. Inzwischen haben wir einzusehen gelernt, daß die vielbe­schworene Objektivität und Beweiskraft dieses technischen Mediums eher Wunschbilder einer allzu naiven Einschätzung sind. Die Faktizität des fotografischen Bildes ist in Wahrheit eine Illusion, beeinflußt durch eine Fülle externer Faktoren, gekenn­zeichnet von Brüchen und Widersprüchen. 
Ein Beispiel: Allein die Präsenz des Fotografen verändert - wenn auch ungewollt - die vorgefundene, ,,ursprüngliche" Wirklichkeit in eine andere, nunmehr „gestellte" Wirklichkeit. Man nimmt Hal­tung an, setzt sich „ins rechte Licht", zeigt sich „von der besten Seite". Das Porträtfoto zeigt somit zumeist nur jene Wirklichkeit, die dem Fotografierten persönlich angenehm ist, also so, wie er von anderen gesehen werden möchte. Ähnliche Beobachtungen lassen sich auch für weitere traditionelle Tätigkeitsfelder der Fotografie machen, selbst für die als besonders authentisch gel­tende Reportagefotografie. Hier wird in der Regel nichts gestellt, nichts inszeniert. Doch ist der Fotograf stets der Interpret der Wirklichkeit. Er bestimmt, indem er aus einem länger dauernden Vorgang nur einen einzigen „fruchtbaren" Augenblick auswählt, Bildausschnitt und Format festlegt, in starkem Maße, wie wir uns anhand seiner Bildvorgabe den abgelichteten Vorgang vor­zustellen haben. Das Foto wird dabei unwillkürlich zum Dialog­partner des Betrachters, indem es seine Suggestivkraft entfaltet.
Es aktiviert die Imagination des Betrachters, erzeugt in seinem Kopf eigene Bildsequenzen, die mit dem Ausgangsbild zu einer neuen, subjektiven Wahrheit verschmelzen. 
Diese suggestive Wirkung des Bildes macht sich insbesondere die Werbung zunutze. Für sie ist der reale Ausgangspunkt, das Motiv, nur Rohmaterial für eine mittels Retusche oder digitaler Überarbeitung erzeugte künstliche Bildvision. Derartige Überar­beitungen zielen meist auf die Illusion makelloser Schönheit ab, also auf eine perfektionierte Wirklichkeit, innerhalb derer die Grenzen zwischen Faktum und Fiktion völlig aufgehoben zu sein scheinen. Was ist Wahrheit, was ist Lüge? Wer vermag, wer will diese Frage noch beantworten? Nur zu gern läßt sich der Konsu­ment in jene Traumwelt entführen, die zwar ein sorgloses Leben in ewiger Jugendschönheit verspricht, aber Realitätsverlust zur Folge hat. 
Eine spektakulärere Manipulation der Wahrheit begegnet uns schließlich in den gefälschten Propagandafotos, die, wenngleich rasch entlarvt, ihr suggestives Potential voll ausspielen und damit zuweilen für beträchtliche politische Irritation sorgen. 
Fotografien haben also Macht, die Macht des Faktischen. Sie bestimmen - zusammen mit ihren elektronischen Enkelkindern -unser Bild von der Welt. Sie sind für uns Realität, für manchen sogar realer als die Wirklichkeit selbst. Daran hat der latente Skeptizismus gegenüber dem angeblichen Wahrheitsgehalt der Bilder ebenso wenig wie unser Wissen um unsere eigene Mani­pulierbarkeit etwas ändern können. Ihre Massenhaftigkeit und Allgegenwart hat sie zu einem selbstverständlichen, meist unre­flektierten Bestandteil unseres Lebens werden lassen. 
Der Volksmund sagt: ,,Ein Bild sagt mehr als tausend Worte". Hierin steckt eine tiefe Wahrheit. Denn in der Tat ist es Träger komplexer Informationen. Und es ist kommunikativ. Lassen wir uns von ihm ansprechen, können wir nicht zuletzt Interessantes über uns selbst erfahren, etwa über unsere Wahrnehmungsge­wohnheiten und zugleich über unsere Offenheit gegenüber dem nie zuvor Gesehenen, dem Unbekannten, dem Fremden. Fotos können neue Perspektiven eröffnen, den Horizont weiten. 
Schon auf den ersten Blick haben die zwischen 1995 und 1999 entstandenen Arbeiten des in Bergisch Gladbach lebenden Fotografen Michael Wittassek (*1958) mit den klassischen Auf­gabenfeldern der traditionellen Fotografie nichts zu tun. Sie haben sich von der herkömmlichen mimetischen Funktion wei­testgehend befreit, d. h. sie zielen nicht primär auf ein wiederer­kennbares Abbild der Realität ab. Gleichwohl setzen sie sich auf dessen Vielschichtigkeit, Brüchigkeit und Fragwürdigkeit im Mit­telpunkt des Interesses stehen. Es handelt sich um experimen­telle Arbeiten, deren Autonomie schon in den ungewöhnlichen Repräsentationsformen Niederschlag findet. Auf die klassische Galeriehängung, bei der die Bilder als Individuen gewertet und folglich in überhöhend - isolierenden Rahmen nebeneinander an die Wand gehängt werden, wurde zugunsten eines den Raum aktiv vereinnahmenden Gesamtarrangements verzichtet. Daß die Fotografie diesen ungewöhnlichen Schritt in die dritte Dimension tut, ist allein schon überraschend und bemerkenswert. Daß sie in acht raumgreifenden Installationen auf die unterschiedlichen räumlichen Gegebenheiten differenziert eingeht und mit diesen spielt, bedarf darüber hinaus der besonderen Hervorhebung, weil hiermit Neuland betreten wird und eingeübte Erwartungs­haltungen keine bequeme Bestätigung finden. Wittassek ver­gleicht die Ausstellung gerne mit einem begehbaren Buch, die einzelnen Räume mit den Kapiteln. Jedes ist anders, behandelt ein bestimmtes Thema. Und wenn auch die Sprache wechselt, so bilden doch alle zusammen eine in sich geschlossene Einheit. Der Leser/Betrachter ist aufgefordert, im Wechsel von Fülle und leere, Chaos und Ordnung, Fläche und Raum seinen eigenen Standort zu ermitteln. Er gelangt möglicherweise zu der Ein­sicht, daß es weder eine homogene Wirklichkeit, noch eine Fotografie an sich gibt. 
Die erste Arbeit, auf die der Besucher bei seinem Rundgang durch die Ausstellung trifft (Raum 1.14 „O.T." 1999), mag zunächst als provokante Störung empfunden werden, bevor sich ihr tieferer Sinn offenbart. Er stößt im noblen Ambiente der großbürgerlichen, mit den Attributen humanistischer Bildung ausgestatteten Halle auf die „Unordnung" eines scheinbar will­kürlich übereinander geworfenen Haufens mannshoher schwar­zer Platten. Bevor wir überhaupt wahrnehmen, daß es sich bei diesen Platten um auf 4 cm starkes Holz aufgezogene Schwarz-Weiß-Fotos handelt, die mit ihrer ungewöhnlichen Körperhaftigkeit und Materialität die Vorstellung von Baustelle und anfänglichem Chaos aufkommen lassen, ziehen zunächst die hochglänzenden Oberflächen an. Sie nehmen den Raum mit dem strahlenden Kristalllüster als Spiegelbild in sich auf, auch den sich der Installation neugierig nähernden Betrachter. Jetzt erst nimmt er allmählich wahr, was die wie Glas reflektierenden Oberflächen der Fotos eigentlich darstellen. Sie zeigen flüssigen Asphalt, wie sich seine Konsistenz und Oberflächenstruktur in der langsamen Erstarrung verändern und mit ihnen die Lichtre­flexe. Hier und da scheint die menschliche Hand mit einem Werkzeug in die zähe Masse eingegriffen zu haben. Wir glauben für einen Augenblick, das Material selbst vor uns zu haben, um uns dann rasch zu erinnern, daß es sich nur um dessen - aller­dings sehr wirklichkeitsnahes - Abbild handelt. Aber selbst diese Gewißheit können wir nicht getrost mit nach Hause neh­men. Sie stellt sich auf einer Tafel, wo der Asphalt wie eine hauchdünne fotografische Schicht von einem weißen Papier abgerissen worden zu sein scheint, als Illusion heraus, als Herausforderung unserer Wirklichkeitsgläubigkeit. Wir sehen das Foto vom Foto vom Asphalt, in dessen Oberfläche mechanisch eingegriffen wurde. 
Die Arbeit hat noch andere Aspekte. Asphalt ist hier in zwei­facher Hinsicht Gegenstand der Fotografie, zum einen als ihr Motiv, zum anderen als ihr Material. Der französische Foto­pionier Niepce hatte mit Asphaltlösungen experimentiert, die er auf Glasplatten auftrug und belichtete. Hierauf spielt die Installation mit ihren Fotos von Asphalt, den wie Glasplatten wirkenden glänzenden Oberflächen und dem Kronleuchter als Lichtquelle an. Die Unordnung ihrer Elemente mag zusätzlich als Indiz für ein unsystematisches Beginnen stehen. Wittassek hat die Arbeit als Hommage für Nièpce bezeichnet. 
Die den Titel „Nicht Orte" tragende Installation ist 1997, also zwei Jahre früher entstanden. Sie besteht aus drei ca. 120 x 200 cm großen, z. T. auf Holzplatten aufgezogenen Schwarz­weiß-Fotos sowie aus Holz- und Glasplatten verschiedener Formate. Fotos und Material sind, sich im Stapel überlappend, entlang einer Wand so aufgestellt, daß der Raum und mit ihm die restlichen Wände weitgehend frei bleiben. Das Ganze wirkt unfertig, als ob das Material nur abgestellt sei und auf seine baldige Verwendung warte. Das Improvisatorische der Situation wirkt animierend, stiftet den Besucher zu eigener Aktivität an, durch die neue Materialkonstellationen entstehen können. Die drei Fotos zeigen jeweils einen leergeräumten Raum in einer Weise, die zwar eine vage Raumvorstellung aufkommen läßt, diese aber sogleich wieder zurücknimmt. Denn die Raumgren­zen bleiben trotz perspektivischer Indikatoren unbestimmt, das Oben ist nicht eindeutig vom Unten geschieden, die Herkunft des Lichtes unklar. Die im Foto sichtbar werdende Filmperfora­tion sowie die als Reproduktionen ihrer selbst erscheinenden Risse und gewaltsamen Ablösungen der Filmschicht, durch die weiße, fremdartige Flächenformen ins Bild einbrechen und für Unruhe sorgen, machen deutlich, wie wenig es um das Festhal­ten von realen Raumsituationen geht. Nicht das Abbilden ist Ziel, sondern das Bilden, die Erzeugung einer neuen, eigenstän­digen Bildwirklichkeit. Daneben geht es um die materiellen Vor­aussetzungen der Fotografie, die, sich unter anderes Material mischend, sich selbst als Material definiert, aus dem sich eine neue, andere Wirklichkeit jenseits der realen Welt erbauen läßt. Im Raum 1.11 , der nur wenige querrechteckige Wandarbeiten zeigt, wird dieses Anliegen noch deutlicher. Plexiglas und eine teilweise naturferne Kolorierung stiften zunächst Distanz. Doch geben die Arbeiten eine handfeste Dinglichkeit vor, die sich erst bei näherer Betrachtung auflöst, um einer tiefen Beunruhigung über die Brüchigkeit der Realität Platz zu machen. Die Irritation ist perfekt: Das Reale erweist sich als artifiziell, das Artifizielle als verblüffend real. 
Die Wände des großen Mittelraumes nehmen eine Fülle von Fotografien auf. Ihre ungewöhnlichen Formen und Formate resultieren aus den sie abdeckenden Glasscheiben. Sie alle stammen aus dem alltäglichen Gebrauchszusammenhang, gehörten einst zu Nachttischen, Wohnzimmerschränken oder Vitrinen. Als Relikte der banalen Wirklichkeit bringen sie eine Dinghaftigkeit ins Spiel, die der proklamierten Dinghaftigkeit der Fotografien entweder entspricht oder ihr entgegentritt. Die Foto­grafie wird durch diese Kombination um eine Realitätsebene erweitert, wenn beispielsweise die Scheibe, die einst den Nacht­tisch schützte, nunmehr dessen lädiertes fotografisches Abbild schützt, das seinerseits wiederum durch eine Reproduktion ver­treten wird. 
Bei dem aus vier unregelmäßig konturierten Teilen bestehenden Bild des nächsten Raumes scheint der Verzicht auf alles Eckige mit der Darstellung einer weichen Wellenstruktur zusammen­zuhängen. Dies gilt auch für die Wahl von Blech als Trägermate­rial der Fotografie. Formgebung und Materialwahl entsprechen dem Bildinhalt, den man als Darstellung von Wellblech zu deu­ten geneigt ist. Es entsteht ein Bild-Objekt, dessen Körperhaf­tigkeit sich über das Schattenbild mitteilt. 
Eine wichtige Arbeit ist in diesem Zusammenhang die mehrere ältere Arbeiten zu einer vielteiligen Rauminstallation vereinigende „Bibliothek". Alle ihre Teile haben auf unterschiedliche Weise etwas mit Archivierung zu tun, so ganz offensichtlich die Wand­regale, in denen sich mit Fotos von Büchern beklebte Gips­blöcke befinden. Die ungewöhnliche Kombination von Gips und Foto erklärt sich aus der Vorstellung Wittasseks, daß sowohl die Gipsabformung wie auch das Lichtbild Abdrücke von etwas Dagewesenem konservieren. Von hier aus wird auch der Sinn jener ähnlich aufbereiteten Fotos verständlich, die, nun in Kon­tainern aufbewahrt, einst einen Raum umstellten. Es ist dem Betrachter anheimgestellt, mit dem überlieferten Material eine Rekonstruktion zu wagen oder eine ganz neue, andere Raum­figuration zu kreieren. 
Während im Treppenhaus großformatige Arbeiten aus den bereits angesprochenen Werkgruppen vereinigt sind, wird im letzten Raum eine in diesem Jahr vollendete, neunteilige Arbeit vorgestellt. In unregelmäßigen Abständen und wechselnden Höhen nebeneinander gehängt, überzieht eine Folge von schwarzen, bizarr geformten Flecken die Wände. So rätselhaft und unerklärlich sie zunächst er-scheinen, ist doch bei einigen die gegenständliche Herkunft zu erkennen. Es handelt sich um Aufnahmen von einzelnen, mit Teer aufgefüllten Straßenlöchern, um Fahrbahnflicken, wie sie jeder kennt. Mittels der Fotografie aus dem Kontext der Fahrbahndecke herausgelöst, isoliert und schließlich als dreidimensionales Objekt in die Vertikale gebracht, nehmen diese Fragmente der Wirklichkeit eine neue, vorher so noch nicht gesehene Qualität an. Bei einigen scheint das noch weiche Material nachgegeben zu haben, so daß sich kleine Pfützen in der entstandenen Vertiefung gebildet haben, die das Tageslicht reflektieren. Bei anderen haben Reifenprofile ein lineares Muster als Spur hinterlassen. 
Je dichter die Fotografie an der Wirklichkeit zu sein scheint, 
um so eher neigen wir dazu, sie mit der Wirklichkeit gleichzusetzen. Michael Wittassek läßt es so weit nie kommen, auch bei dieser suggestiven Arbeit nicht. lntentionell angebrachte Kratzer zerstören den schönen Schein und erinnern daran, daß das, was da vor uns steht, lediglich Papier, d. h. Material ist, auf des­sen Oberfläche Spuren aufgezeichnet werden können. Ähnlich wie sich im noch weichen Teer Gewesenes als Abdruck manife­stiert, hält das Licht auf der Filmschicht die Spur von Gewese­nem fest. 
Wittassek geht in seinen durch sensible Intelligenz bestechen­den Arbeiten jedoch noch einen entscheidenden Schritt weiter. Er stellt weniger die ohnehin überstrapazierte Verweisfunktion der Fotografie in den Mittelpunkt seiner Recherche, mehr ihren Gebrauchscharakter. Nicht das „Was" interessiert ihn, sondern das „Wie". Hierzu schreibt er: ,,Das Wie, mit dem ich das Bild herstelle, die Absicht, die Intention, die ich verfolge, wird bestimmt von meinem Bild der Wirklichkeit und bestimmt die Wirklichkeit des Bildes. Nicht der Verweis auf ein „absolut" gel­tendes Wirklichkeitsmodell außerhalb des Bildes, sondern mit dem immer wieder neu zu schaffenden Verhältnis von Autor, Werk und Rezipient könnte Wirklichkeit begründet werden. Wirklichkeit wird durch das Bild geschaffen." 
Dies vermag die Ausstellung auf spannende Weise anschaulich zu machen. Sie leistet hiermit einen Beitrag zu unserem Selbst­verständnis in dieser Welt.
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