Sabine Elsa Müller
Kunstverein Brühl 07.03. – 05.04.2008
Text Kunstforum international, Band 191, S. 340/341

Michael Wittasseks Auseinandersetzung mit dem Medium Fotografie kommt einer grundsätzlichen Analyse gleich. Er emanzipiert die Fotografie von ihrer ohnehin fragwürdigen Abbildfunktion zugunsten einer bis an die Grenzen des Differenzierungsvermögens vorstoßenden Durchleuchtung ihrer wahrnehmungsphänomenologischen Kapazitäten. Kein Wunder also, dass sich die sechs 1,50 m bis 2 m hohen bzw. breiten Arbeiten im Brühler Kunstverein auf den ersten Blick ebenso kolossal ähneln wie sie sich bei genauerer und längerer Betrachtung schließlich als geradezu diametral voneinander unterschieden erweisen. Die Wirklichkeit der fotografischen Bilder lässt sich immer nur für jedes einzelne im individuellen, temporären Verhältnis von Werk, Raum und Rezipient erfahren, nicht wirklich erfassen. 
Wittassek geht demzufolge vom Raum aus, in dem er agiert. Die langgestreckte ehemalige Schlosserei, die dem Brühler Kunstverein nun seit einigen Jahren glücklich zur Verfügung steht, öffnet sich auf ihrer Längsseite ganz zu einem öffentlichen Garten hin, so dass sich in den schwarzen Oberflächen der an die gegenüberliegende Wand gelehnten Fotografien nicht nur Fenster und Türen, sondern auch vorfrühlingshaft kahle Sträucher, ausladende Kübelpflanzen und flanierende Spaziergänger spiegeln. So wenig die Fotografien erkennen lassen, was hier fotografiert wurde, so deutlich sichtbar bilden sie die Außenwelt als ihre vermeintliche Innenwelt ab. Dem starken Gegensatz von dunkler, nicht klar zuzuordnender Oberfläche und hereinbrechender Tageshelle wird in dem französischen Ausstellungstitel „clair-obscur“ Rechnung getragen, in dem sich nicht nur das Doppelbödige, Zwielichtige, sondern auch die starken Kontraste eines caravaggesken „Chiaroscuro“ samt der wortwörtlichen Übersetzung, im Taschenlexikon mit dem mysteriösen Begriff „Schattenlicht“ benannt, widerspiegelt. Beim näheren Herantreten stellt sich allerdings schnell heraus, dass die Schwärze der Oberflächen in sich differenziert ist. Von Bild zu Bild lassen sich ganz unterschiedliche Strukturen und Tönungen erkennen, es gibt unregelmäßige Begrenzungen der Ränder, und – Beschädigungen! Doch der Schein trügt: Die Knicke, Risse und Kratzer gehören einer anderen Wirklichkeitsebene als die Ausstellungsexponate an; die mannshohen, installativ im Raum gruppierten Fotografien sind makellos glatt und unversehrt. Geknickt, aufgerissen und zerkratzt sind die Fotografien, die diesen Bildern zugrunde liegen und die sie in einem früheren Stadium des Entstehungsprozesses bereits hinter sich gelassen haben. Wittassek fotografiert Fotografie, um sie einer neuen Bestimmung zuzuführen.
Die Distanz zwischen dem Gegenstand und seinem Abbild wird durch das fotografische Umkopieren und Vergrößern zerdehnt, bis sich das Abbild ganz vom Gegenstand gelöst hat und zu einer eigenen Wirklichkeit gelangt. Am Beginn einer langen Entscheidungskette steht ein Archiv aus eigenen Aufnahmen, durchweg schwarzweiß, die sehr viel über die Kultivierung einer präzisen und differenzierten Beobachtungsgabe, aber wenig über den zugrunde liegenden Gegenstand aussagen. Das kleinformatige, in Notizbüchern fixierte Rohmaterial – eine Fülle von Strukturen, Nuancen zwischen Schwarz und Weiß, Lichtwirkungen, Intensitäten, Härtegraden – wird in einem nächsten Schritt skulptural umgeformt. Es wird bearbeitet, handwerklich durch Falten, Ritzen, Reißen verändert und/oder durch zusätzliche Licht- und Schattenwirkungen in eine dinghaft-körperliche Faktizität überführt. Manchmal löst Wittassek die oberste, belichtete Schicht teilweise vom Papierträger, so dass das Abbild, die Illusion, verschwindet und die Materialität des Papiers unter der Oberfläche in den Focus tritt. Die Fotografie als plastischer Gegenstand verweist die Wiedergabe von Ähnlichkeit in den Bereich des kulturellen Kontexts und ordnet ihr statt dessen eine eigene Körperlichkeit zu. 
Durch das neuerliche Abfotografieren gerät die objektivierte Fotografie wiederum in den Bannkreis einer illusionistischen Wirklichkeitsaneignung. Aber der Blick kann jetzt nicht mehr in die Tiefe des illusionistischen Raumes vordringen, da dieser durch die Berührungsspuren, Lichtreflexe und Faltungen der Oberfläche versperrt wird. Der Blick wird auf den Betrachter zurückgeworfen. Nicht zufällig erinnern die stark vergrößerten Oberflächen der Schwarzweißfotografien an Haut oder Leder, besonders wenn mit Barytpapier gearbeitet wurde. Die belichtete Schicht kann aber auch ihren Aggregatzustand scheinbar ändern und wie flüssiger Lack wirken. Auf Holz aufgezogen, reicht das schon sehr nahe an die Malerei heran. Das eigentlich Spannende der Installation beginnt an diesem Punkt, wenn das Wechselspiel mit den verschiedenen Realitätsebenen in den Raum hinein weitergeleitet wird. Hier weitet sich die Zwisprache der Arbeiten mit dem Raum und dem Betrachter aus in ein reziprokes Stimmengewirr. Es kommt nicht nur zu den bereits angesprochenen Reflexionen durch stark glänzende Oberflächen oder Rahmungen hinter Glas. Eine Glasscheibe, bei der es sich auch um eine Scheibe aus einem Vitrinenschrank oder ähnlichem handeln kann, kann auch einfach vor der Arbeit gegen die Wand gelehnt sein und in einem über das Bildformat überstehenden Streifen die Wand mitthematisieren. Die Dinghaftigkeit der Fotografie wird in den Raum projiziert. Der Betrachter agiert als Körper unter Körpern und erfährt seine Wahrnehmung in ihrer Abhängigkeit von seiner Position im Raum und seiner Bewegung. Es gibt keine ideale Position, von der aus die Bilder vollständig erfasst werden können, sie entziehen sich der Betrachtung nicht nur durch die Verunklärung des Gegenstandes, sonder auch durch ihre Unschärfen, durch den starken Glanz und eine uneindeutige Räumlichkeit. Das Sichtbare enthüllt sich immer nur partiell. Andererseits sind Licht und Schatten nicht nur als Illusion im Bild gebannt, sondern spielen als reale Phänomene bei der Präsentation eine bedeutende Rolle, wenn Schattenkanten an den Rändern oder Schattenräume an den Wandabschnitten hinter den Bildern ebenso mitwirken wie ein die Oberfläche überblendender frontaler Lichteinfall. Faktizität und Illusion gehen Hand in Hand.

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