​​​​​​​Steigt man die Treppe hinauf zur Bel Étage der Villa Zanders, wird man von deiner Installation empfangen. Schon der Titel Unfall widersetzt sich aber der Erwartung eines möglichst tadellosen repräsentativen Entrées. 
Der Unfall ist – nach Aristoteles – ein Auftauchen einer Qualität, die einer Sache oder eines Dinges zugehörig ist, aber durch andere Qualitäten dieser selben Sache verdeckt wird. Sein Auftauchen geschieht unerwartet und ist unvorhersehbar. Und doch ist er substantieller Bestandteil dieser Sache oder dieses Dinges und gehört zu ihrem „Wesen“. So könnte man daraus folgern, dass erst durch einen Unfall eine Sache / ein Ding sich in seiner Vollständigkeit zeigt. Das ist genau das, was ich in meiner Arbeit verfolge: Die versteckten Qualitäten der Fotografie in Erscheinung zu bringen. Dass das glänzende, zerknautschte Fotomaterial an Blech erinnert und damit die Assoziation eines Autounfalls hereinbringt, ist ein durchaus willkommener Nebeneffekt. 

Wie steht es um die Beziehung zwischen Bild und Bildobjekt? 
Eine komplizierte, hartnäckige Beziehung! Das fotografische Bild, so wie wir es kennen, als zentralperspektivische Konstruktion, ist eine Erfindung der Renaissance und ist in dieser Lesart wiedererkennbar als Projektion des Außenraumes in der Camera Obscura. Diese Sichtweise ist durch unsere okzidentale (westliche) Kultur geprägt. In Frage gestellt wurde sie (leider nur zu zaghaft, als Randnotiz der Geschichte vermerkt), als Fotografen im 19. Jahrhundert in die verschiedensten Regionen der Welt zogen, um Aufnahmen zu machen, und die Menschen dort (in Japan, in China oder im afrikanischen Busch – also in außer-europäischen Kulturen) auf den Fotografien überhaupt nichts erkennen konnten!
Dieses „schwierige“ Verhältnis zwischen Bild und Bildobjekt bezeichnet den Kern meiner künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Medium. Deswegen auch die Angriffe – im wörtlichen Sinne – auf das fotografische Bild, also das Zerkratzen, Zerreißen, Zerknüllen des Fotos. Es wird attackiert, aber auch subjektiviert und in den Bereich der Dingwelt überführt. Dieses Ding – das bearbeitete Foto – wird erneut abfotografiert, um ein anderes, ein fremdes, ein neues Bild der Fotografie zu ermöglichen. Der Transfer vom abfotografierten Gegenstand zum Bild in der Ausstellung verläuft grundsätzlich über diese Zwischenstufe der Umwandlung einer Fotografie in ein Objekt einer weiteren Fotografie, in der sich die unüberbrückbare Distanz zwischen Bildobjekt und Bild thematisiert. 

Welche Rolle spielt der Werkstoff Papier für dich?
Der Werkstoff Papier ist Trägermaterial der Fotografie, sowohl die lichtempfindliche Schicht in der analogen Fotografie, wie auch Träger der aufgesprühten Farbpigmente in der digitalen Fotografie. Das Papier spielt in meiner Arbeit folglich eine wesentliche Rolle, da es in all seinen Qualitäten gezeigt wird. Es ist hier sozusagen immer „Hauptmotiv“. Man erkennt schnell, ob es eher glänzender oder matter Natur ist. Die aufbrechende Oberfläche bringt ihr Inneres, die Papierfasern zum Vorschein, die grob, aber auch sehr fein sein können. Da ich ja darauf bedacht bin, die aufgebrachten Manipulationen oder Verletzungen mit dem ursprünglichen Motiv korrespondieren zu lassen, tritt Papier häufig auch als ursprünglich fotografiertes Motiv auf. Wie es auch bei allen in der Ausstellung gezeigten Arbeiten der Fall ist. 

Deine Arbeiten sind immer schwarzweiß. Warum?
Farben würden den Betrachter auf eine falsche Fährte bringen. Die Farbe im fotografischen Bild forciert die Illusion des repräsentierten Objektes. Der Betrachter wird noch stärker in eine scheinbar reale Welt hineingezogen, die sich immer weiter von der menschlichen Wahrnehmung entfernt. Und das ist ja genau das Gegenteil von dem, was ich mit meiner Arbeit beabsichtige. Sehr wichtig ist dagegen das Licht für meine Arbeit. Bei einem abfotografierten Foto arbeite ich oft mit Lichtreflexen. Die Transparenz der Fotografie, d.h. ihre Unsichtbarkeit (Roland Barthes: "Es ist nicht die Fotografie, die man sieht".) wird durch das Licht in eine Opazität verwandelt. Die Fotografie wird sichtbar! Das Licht prallt an der Fotografie ab, es wird reflektiert. Das Foto bricht auf und zeigt sein Inneres (- seine Seele?). 

Ich sehe dich eher als Bildhauer denn als Fotograf, und zwar als Bildhauer, der skulptural arbeitet, d.h. die Form durch Wegnahme = Zerstörung sucht. Kannst du dieser Einschätzung etwas abgewinnen?
Dem kann ich nur zustimmen! Wie für den Bildhauer der Stein, den er bearbeitet, einen Widerstand bildet und der gegen ihn arbeitet, ist es für mich die Fotografie, die ich als Widerstand ansehe, die sich mir widersetzt, und die ich versuche zu formen, indem ich sie attackiere, ja auch zerstöre, um auf ihr Wesen zu stoßen. Da ich oft die Fotografien auf Materialien wie Holz oder Gips (klassische Bildhauer-Materialien!) aufziehe, führe ich sie in eine Dreidimensionalität. Auch die Bewegung des Betrachters, das Erfassen der Arbeit durch Veränderung seines Standortes, ist ein wichtiger Aspekt in meinem Werk. Der konkrete Raum, der Raum der Ausstellung, ist immer eine Herausforderung und Ausgangspunkt vieler meiner Installationen und bestimmt damit auch ihre Abmessungen. Das einzelne Bild dagegen erhält seine Abmessungen auf die menschliche Größe bezogen. Es soll ein Gegenüber zum Betrachter bilden. 

Du hast dir als Dialogpartner Gregor Hildebrandt und Maria Reuter ausgewählt. Was interessiert dich an den beiden bzw. ihren Arbeiten?
Maria Reuter hat in ihrer Arbeit die Kapazität, die „Fähigkeit“, eines Blattes Papier mit wenigen Mitteln umrissen: einmal seine Fragilität, seine Verletzbarkeit und gleichzeitig seine Dauerhaftigkeit als Träger von Zeichen. In der Ausstellung tritt sie in Dialog mit meiner Arbeit „o.T.“, 2008. Hier sehen wir ebenfalls fast nichts: ein leeres Foto, eine – wenn man so will – durch Überbelichtung ausgelöschte Fotografie. Nur ein kleiner Knick gibt einen Hinweis darauf, dass hier noch eine Materialität vorhanden ist … Anders die Arbeit von Gregor Hildebrandt: die „Wahlverwandtschaft“ scheint offensichtlich – fast schon zu nah! In beiden Arbeiten ist das Ausgangsmotiv Klopapier, ein im Kunstkontext seltenes doch für uns alle ein alltägliches, intimes Objekt. So offensichtlich das gemeinsam gewählte Sujet, so unterschiedlich ist der jeweilige Umgang und sind die daraus entstehenden Werke. Doch auch hier tun sich in der Zwiesprache der beiden gezeigten Arbeiten interessante Aspekte auf. Meine Arbeit von 2011 ist ein Element der 15-teiligen Installation "paysages retrouvés", welche die unterschiedlichsten Motive, die heute auf Klopapier in einer enormen Vielzahl in den Supermärkten zu finden sind, sammelte und die allesamt „Natur“ bebildern: Blumen, Bäume, Sonne, Berge, Wolken, Schmetterlinge, etc … Mit diesen naiven, fast unschuldigen Motiven habe ich nun in der Installation Landschaften zusammengesetzt. So wie ich die Landschaften wieder gefunden habe, hat Gregor Hildebrandt das Bild, welches durch den technischen Prozess der Herstellung bedingt zerschnitten wurde, wieder hergestellt: l’image retrouvée! Die Naturmotive auf dem Klopapier sehe ich als ein Symptom – und so verstehe ich auch meine Arbeit – einer sich von der Natur entfremdeten Gesellschaft. Und diesen Aspekt des Entfremdeten, bzw. Befremdlichen sehe ich auch in Hildebrandts Arbeiten. Indem er die Rollen des Klopapiers wie Tapetenrollen verwendet und so eine scheinbar dekorative Wandfläche schafft, bietet er uns an, uns darin einzurichten, es uns wohnlich zu machen: eine befremdliche Vorstellung, uns mit Klopapier einzurichten!

Zu guter Letzt die Frage: In welche Richtung geht es weiter? Welche Fragen brennen dir unter den Nägeln?
An dieser Stelle, statt eines Statements, ein kleiner Text von C. Baudelaire (Morale du joujou, 1853), der mich sehr amüsiert hat und schildert, wie Kinder ihr neues Spielzeug erobern. Ein Ritual, eine „erste metaphysische Tendenz“, welches immer gleich – mal schneller, mal langsamer – verläuft und aus folgenden Handlungen besteht: „Die meisten Kinder wollen vor allem eins: die Seele sehen. Und dieser Wunsch bestimmt das längere oder kürzere Leben eines Spielzeuges. Das Kind wendet sein Spielzeug hin und her, es kratzt mit spitzen Nägeln an seiner Oberfläche, es schüttelt es, klopft es gegen die Wand, wirft es zu Boden. Von Zeit zu Zeit fängt es an die mechanischen Bewegungen zu wiederholen, manchesmal im umgekehrten Sinne. Doch plötzlich stoppt dieses beschauliche Leben. In einem letzten Akt, dem wichtigsten, öffnet es das Spielzeug, erst einen Spalt, doch dann erschüttert ein Schrei alle anwesenden Personen: Wo ist die Seele?“
Was mach ich anderes mit der Fotografie als die Kinder mit ihrem Spielzeug?
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