Michael Wittassek. Fragmente möglicher Skulpturen
Dass die gemauerten und verputzten Sockel im nördlichsten der vier Sondergärten des Vorgebirgsparks, dem sogenannten Immergrünen Garten, immer wieder die Aufmerksamkeit der ausstellenden Künstler und Künstlerinnen wecken, kann kaum verwundern. Die vier Quader zwischen den üppig aufragenden Eiben sind auffällige Leerstellen im Erscheinungsbild dieses Parkteils, was unweigerlich die Vorstellungskraft aufmerksamer Besucher anregt. Wie man auf alten Fotografien sehen kann, waren auf diesen Sockeln in der Frühzeit des 1914 eröffneten Parks neobarocke Skulpturen mit Motiven wie Ball spielenden oder auf Schildkröten reitenden Putten positioniert. Die Figuren sind längst verlorengegangen, übriggeblieben sind bloß die verwaisten Postamente.
Der Künstler Michael Wittassek begnügt sich in seinem Beitrag zur Ausstellung 2024 nicht damit, sie temporär mit neuen Skulpturen zu besetzen, er greift zudem tief in die Kunstgeschichte hinein, um eine imaginäre Rekonstruktion des ehemaligen Skulpturenbestandes zu wagen. Dabei stellt er sich den Immergrünen Garten als fiktive archäologische Ausgrabungsstätte vor, in der man außer den Sockeln auch Fragmente von Skulpturen finden könnte, deren Alter unbestimmt bleibt, deren Motive sich aber bis in die Antike zurückverfolgen lassen. Fünf Fragmente hat Wittassek angefertigt, eines für jeden Sockel und ein fünftes als pars pro toto für alle weiteren „verlorenen“ Werke. Was an Wittasseks Arbeit am meisten überrascht, ist die Tatsache, dass er für die Ausgestaltung möglicher Skulpturen kein bildhauerisches Material verwendet, weder Stein noch Gips, weder Holz noch Eisen, sondern ganz unerwartet: Fotografien. Der Künstler hat selbstangefertigte Aufnahmen auf große Bögen glänzenden Fotopapiers ausgedruckt und diese gefaltet, verdreht, geknautscht, geformt und partiell mit Schrauben fixiert, bis sich überraschend formstabile plastische Gebilde ergaben: so etwas Paradoxes wie fotografische Skulpturen oder skulpturale Fotografien.
Einerseits ist die Wahl von Fotos für eine imaginäre Rekonstruktion von Vergangenheit einleuchtend, schließlich ist die Fotografie das Gedächtnis-Medium schlechthin, das einmal stattgehabte Ereignisse oder Zustände über die Zeit aufbewahrt. Andererseits aber ist die Fotografie – vermeintlich – ein gänzlich unplastisches Medium, sofern man sie, wie wir das im Alltag ja ständig tun, bloß als immaterielles Abbild von Motiven aller Art begreift. Es jedoch gerade das Kernanliegen von Michael Wittasseks künstlerischem Werk seit vielen Jahren, die Aufmerksamkeit der Betrachter auf die unabdingbare Materialität der Fotografie zu lenken, auf die Werkstoffe, mit denen Fotografen über die Zeit experimentiert haben, und auf die Bildträger, die man benötigt, um dem fotografischen Bild überhaupt zur Sichtbarkeit zu verhelfen. Gewohnt, den Fokus allein auf das Motiv zu richten, vergisst man völlig, dass das Papier, auf dem eine Fotografie entwickelt oder ausgedruckt ist, ein materielles, dreidimensionales Objekt ist, wie flach es auch immer sein mag. Indem Wittassek seine Fotoabzüge staucht, faltet und verformt, um sie in Rauminstallationen zu verwandeln, wird diese meist verdrängte Seite erfahrbar – nicht zuletzt auch wegen der Sichtbarkeit der ansonsten unbeachteten „leeren“ Rückseiten der Abzüge.
Der Künstler Michael Wittassek begnügt sich in seinem Beitrag zur Ausstellung 2024 nicht damit, sie temporär mit neuen Skulpturen zu besetzen, er greift zudem tief in die Kunstgeschichte hinein, um eine imaginäre Rekonstruktion des ehemaligen Skulpturenbestandes zu wagen. Dabei stellt er sich den Immergrünen Garten als fiktive archäologische Ausgrabungsstätte vor, in der man außer den Sockeln auch Fragmente von Skulpturen finden könnte, deren Alter unbestimmt bleibt, deren Motive sich aber bis in die Antike zurückverfolgen lassen. Fünf Fragmente hat Wittassek angefertigt, eines für jeden Sockel und ein fünftes als pars pro toto für alle weiteren „verlorenen“ Werke. Was an Wittasseks Arbeit am meisten überrascht, ist die Tatsache, dass er für die Ausgestaltung möglicher Skulpturen kein bildhauerisches Material verwendet, weder Stein noch Gips, weder Holz noch Eisen, sondern ganz unerwartet: Fotografien. Der Künstler hat selbstangefertigte Aufnahmen auf große Bögen glänzenden Fotopapiers ausgedruckt und diese gefaltet, verdreht, geknautscht, geformt und partiell mit Schrauben fixiert, bis sich überraschend formstabile plastische Gebilde ergaben: so etwas Paradoxes wie fotografische Skulpturen oder skulpturale Fotografien.
Einerseits ist die Wahl von Fotos für eine imaginäre Rekonstruktion von Vergangenheit einleuchtend, schließlich ist die Fotografie das Gedächtnis-Medium schlechthin, das einmal stattgehabte Ereignisse oder Zustände über die Zeit aufbewahrt. Andererseits aber ist die Fotografie – vermeintlich – ein gänzlich unplastisches Medium, sofern man sie, wie wir das im Alltag ja ständig tun, bloß als immaterielles Abbild von Motiven aller Art begreift. Es jedoch gerade das Kernanliegen von Michael Wittasseks künstlerischem Werk seit vielen Jahren, die Aufmerksamkeit der Betrachter auf die unabdingbare Materialität der Fotografie zu lenken, auf die Werkstoffe, mit denen Fotografen über die Zeit experimentiert haben, und auf die Bildträger, die man benötigt, um dem fotografischen Bild überhaupt zur Sichtbarkeit zu verhelfen. Gewohnt, den Fokus allein auf das Motiv zu richten, vergisst man völlig, dass das Papier, auf dem eine Fotografie entwickelt oder ausgedruckt ist, ein materielles, dreidimensionales Objekt ist, wie flach es auch immer sein mag. Indem Wittassek seine Fotoabzüge staucht, faltet und verformt, um sie in Rauminstallationen zu verwandeln, wird diese meist verdrängte Seite erfahrbar – nicht zuletzt auch wegen der Sichtbarkeit der ansonsten unbeachteten „leeren“ Rückseiten der Abzüge.
Für seine Installation im Vorgebirgspark hat Wittassek fünf für die Geschichte der Skulptur repräsentative Motive ausgewählt. Da ist zunächst die Himmels- oder Weltkugel, die der antike Titan Atlas auf den Schultern tragen muss. Wer genau hinschaut, wird Motive wie kartografische Linien aus Erdkundebüchern darauf erkennen können. Ein weiteres Motiv ist der Flügel. Ob es die Siegesgöttin Nike ist, oder Chronos, der Gott der Zeit, oder aber die unzähligen Engelsfiguren der christlichen Kunst – geflügelte Wesen sind seit der Antike ein verbreitetes bildhauerisches Motiv. Wittassek hat sein Flügel-Fragment durch das „luftige“, leichte Motiv von Plastikfolie veranschaulicht. Die Geschichte der Skulptur ist übervoll mit Gewandfiguren und unzähligen Varianten des Faltenwurfs. Hier wird es dargestellt durch eine zur Schleppe ausgeformte Fotografie textiler Stoffe. Ein weiteres Objekt spielt auf ein christliches Motiv an, den von Pfeilen durchbohrten Heiligen Sebastian. Man sieht eine Art Körperfragment, auf denen Löcher zu erkennen sind, aus denen Entwicklerflüssigkeit läuft – eine Anspielung auf die Wunden des Märtyrers. Das letzte Fragment spielt auf das zentrale Motiv der wohl berühmtesten antiken Skulptur überhaupt an, auf die Schlange der aus hellenistischer Zeit stammenden Laokoon-Gruppe. Für die Anmutung von glänzender Schlangenhaut sorgt das fotografische Motiv von Kunstleder-Oberflächen.
Michael Wittassek hat im Lauf der Jahre etliche, zum Teil raumgreifende Installationen mit skulptural geformten Fotografien erstellt, aber die „Fragmente möglicher Skulpturen“ im Vorgebirgspark sind insofern eine Premiere, als es sich um seine erste Arbeit mit partizipativem Charakter handelt. Denn die Besucher des Vorgebirgspark sind dazu eingeladen, die Fragmente anzufassen, zu bewegen, ihre Lage zu verändern und mit ihnen zu agieren, etwa die Himmelskugel des Atlas selbst zu stemmen, die Schleppe zu tragen, sich den Flügel irgendwie an den Körper zu montieren und so weiter. Im performativen Akt der körperlichen Aneignung und Aktivierung der Skulpturenteile verlieren diese für einen Moment ihren Fragmentcharakter und vereinen sich mit den Körpern der Parkbesucher temporär zu einer neuen, lebendigen Ganzheit.
Michael Wittassek hat im Lauf der Jahre etliche, zum Teil raumgreifende Installationen mit skulptural geformten Fotografien erstellt, aber die „Fragmente möglicher Skulpturen“ im Vorgebirgspark sind insofern eine Premiere, als es sich um seine erste Arbeit mit partizipativem Charakter handelt. Denn die Besucher des Vorgebirgspark sind dazu eingeladen, die Fragmente anzufassen, zu bewegen, ihre Lage zu verändern und mit ihnen zu agieren, etwa die Himmelskugel des Atlas selbst zu stemmen, die Schleppe zu tragen, sich den Flügel irgendwie an den Körper zu montieren und so weiter. Im performativen Akt der körperlichen Aneignung und Aktivierung der Skulpturenteile verlieren diese für einen Moment ihren Fragmentcharakter und vereinen sich mit den Körpern der Parkbesucher temporär zu einer neuen, lebendigen Ganzheit.